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Vielleicht erinnerst du dich:
In der letzten Folge ging es darum, dass die Zahl auf der Waage oft mehr Stress erzeugt als Klarheit.
Heute schauen wir zurück in die Vergangenheit.
Woher kommt dieses Bedürfnis, sich zu wiegen?
Und wie kannst du die Zahl so nutzen, dass sie dich nicht steuert, sondern begleitet?
Körperwahrheiten.
In diesem Podcast geht es um dich.
Darum, was dein Körper dir erzählt,
darum, wie du mit dir redest und wie alles zusammenhängt.
Hier spricht Marianne Brenninger.
Ich begleite Menschen in Bewegung – körperlich, mental und im Nervensystem.
Im Alltag, im Training und auf dem Minitrampolin.
Adolphe Quetelet – der Mann, der den Durchschnitt erfand
Die Geschichte des Wiegens beginnt nicht mit Medizin oder Gesundheit, sondern mit Mathematik.
Im 19. Jahrhundert lebte in Belgien ein Mann namens Adolphe Quetelet.
Astronom, Statistiker, Soziologe – kein Arzt.
Er glaubte, dass sich alles, auch der Mensch, mit Wahrscheinlichkeiten erklären lässt.
Er wollte die Gesetze des Himmels auf den Menschen anwenden.
Quetelet dachte, dass sich alles berechnen lässt –
nicht nur Planetenbahnen, sondern auch Körper, Charakter, Verhalten.
Er sah den Menschen als Teil einer Gleichung.
So wie Planeten die Sonne umkreisen, meinte er,
kreisten Menschen um einen Mittelpunkt der Normalität.
Er nannte ihn den „durchschnittlichen Menschen“.
Abweichung verstand er nicht als Vielfalt,
sondern als Fehler der Natur.
Er sammelte Messwerte von Tausenden Menschen –
genauer gesagt: von männlichen Rekruten.
Er berechnete ihr Verhältnis von Körpergröße zu Gewicht
und schuf daraus den Quetelet-Index,
später bekannt als Body-Mass-Index.
Seine Idee war schlicht:
Je näher du an der Mitte liegst, desto „richtiger“ bist du.
Diese Mitte war männlich, europäisch, jung.
Frauen, Kinder, ältere Menschen kamen darin nicht vor.
Was als mathematischer Durchschnitt begann,
wurde später zum Maßstab für Gesundheit erklärt – weltweit, für alle.
Das Problem mit seiner Logik
Quetelet dachte linear.
Er glaubte an Ordnung, Berechenbarkeit, Wahrscheinlichkeit.
Doch selbst dort, wo er sein Vorbild fand – im Himmel –
gilt diese Ordnung so nicht mehr.
Wir wissen heute:
Planetenbahnen sind nicht stabil, sondern chaotisch-dynamisch.
Schon drei Himmelskörper erzeugen ein System, das sich nie exakt vorhersagen lässt.
Ziemlich menschlich, oder?
Gravitation, Störungen, kleine Verschiebungen – alles verändert die Bahn.
Wenn schon die Sterne nicht perfekt berechenbar sind,
wie sollte es dann der Mensch sein?
Unser Körper, unser Verhalten, unser Stoffwechsel folgen keinem festen Orbit.
Sie reagieren, passen sich an, verändern sich.
Dieser Wissenschaftler suchte Sicherheit in Zahlen,
wo in Wahrheit lebendige Unschärfe herrscht.
Er wollte Vorhersagbarkeit – und fand Kontrolle.
Sein Vermächtnis:
Ein Denken, das Abweichung für ein Problem hält.
Ein Denken, das bis heute wirkt,
wenn wir uns auf die Waage stellen
und glauben, eine Zahl sage, ob wir „in der Spur“ sind.
Von der Statistik zur Versicherung – wie Körper zu Risiko wurden
Nachdem Quetelet den Durchschnitt erfunden hatte,
dauerte es nicht lange, bis andere erkannten,
dass man mit Durchschnitt auch rechnen kann – im wörtlichen Sinn.
Ende des 19. Jahrhunderts begannen große Versicherungen,
seine Formeln auf ihre Kundendaten anzuwenden.
Vor allem in den USA, wo die Lebensversicherung boomte.
Dort wollte man Risiko messbar machen.
Die Metropolitan Life Insurance Company
war die erste, die aus Millionen Versicherungsakten
Größe, Gewicht, Alter und Todesursachen auswertete.
Das war zwischen 1910 und 1920.
Sie verglichen, welche Körperverhältnisse mit längerer Lebenszeit verbunden waren,
und erklärten diese Mitte zur Norm.
So entstanden die ersten Idealgewichtstabellen,
die jahrzehntelang in Arztpraxen und Magazinen hingen.
Das war der Moment, in dem sich das Denken über den Körper endgültig verschob –
vom lebendigen Menschen zum statistischen Risiko.
Wer zu leicht war, galt als anfällig,
wer zu schwer war, als gefährdet.
Der Körper wurde ökonomisch –
ein kalkulierbares Gut, das in Tabellen passen musste,
um versicherbar zu sein.
Diese Tabellen prägten die Medizin über Jahrzehnte.
Sie wurden zu Lehrmaterial und Richtwerten für „Normalität“.
Obwohl sie auf Männerdaten basierten,
galten sie bald für alle.
Der Gedanke, dass man Gesundheit sehen und wiegen könne,
stammte also nicht aus der Heilkunde,
sondern aus dem Risikomanagement.
Nicht therapeutisch, sondern buchhalterisch.
Von der Versicherung zur Moral
Das passte perfekt in die Zeit.
Industrialisierung, Effizienz, Leistung –
wer funktionierte, galt als gesund.
Wer abwich, als schwach.
So wurde die Zahl auf der Waage
zum moralischen Wert.
Nicht mehr nur zum Gesundheitsindikator,
sondern zum Beweis von Kontrolle.
Gesundheit war kein Zustand mehr,
sondern eine Leistung.
Und während Quetelet mathematische Ordnung suchte,
fanden Versicherungen darin ein Werkzeug
für soziale Ordnung.
Körper wurden kategorisiert –
nicht, um sie zu verstehen,
sondern, um sie zu bewerten.
Vom Risiko zur Routine – die Waage zieht ins Zuhause ein
In der Mitte des 20. Jahrhunderts veränderte sich der Ort des Wiegens.
Was in Versicherungsbüros begonnen hatte,
wanderte langsam in die Wohnungen.
Bis in die 1940er-Jahre war Wiegen
eine Angelegenheit der Medizin.
In Apotheken, Krankenhäusern oder an Bahnhöfen
standen große öffentliche Personenwaagen.
Man warf eine Münze ein,
stellte sich drauf
und bekam einen Zettel mit der Zahl.
Ein kurzer Moment der Neugier – nicht der Selbstkontrolle.
Erst mit dem wirtschaftlichen Aufschwung nach dem Krieg
änderte sich das.
Haushaltsgeräte wurden zu Statussymbolen.
Kühlschränke, Staubsauger – und bald auch die Badezimmerwaage.
Sie war ein Zeichen moderner Lebensführung:
Präzision, Sauberkeit, Verantwortung.
Die Historikerin Roberta Bivins beschreibt,
wie Werbung in den 1950er-Jahren die Waage
zum festen Bestandteil des modernen Haushalts erklärte.
Sie sollte „in jedem Heim“ stehen –
als Symbol dafür, dass Gesundheit planbar ist.
Die Botschaft war klar:
Wer regelmäßig wiegt, sorgt gut für sich und seine Familie.
Die Werbung richtete sich an Frauen,
an Hausfrauen, die als Hüterinnen von Ordnung und Moral galten.
Das Badezimmer wurde zu einem stillen Kontrollraum,
die Waage zu einem pädagogischen Objekt.
Sie versprach Schönheit, Schlankheit, Erfolg.
Man verkaufte kein Messgerät,
man verkaufte ein Lebensgefühl:
das Gefühl, alles im Griff zu haben.
Der Blick auf die Zahl wurde kein medizinischer Vorgang mehr,
sondern eine Bewertung –
eine stille Selbstüberwachung,
verpackt als „gesunde Routine“.
Damit war das Wiegen endgültig Teil des Alltags geworden.
Eine private, unsichtbare Fortsetzung der Statistik,
die mit Quetelet und den Versicherungen begonnen hatte –
nur dass sie jetzt nicht mehr im Büro stattfand,
sondern morgens, barfuß, im eigenen Bad.
Von der Badezimmerwaage zur Smartwatch
Heute stehen die Waagen nicht nur im Bad,
sondern in der Hosentasche.
Apps, Smartwatches und vernetzte Waagen
erfassen Gewicht, Puls, Schlaf, Schritte
und schicken alles in die Cloud.
Das Versprechen ist dasselbe geblieben:
Wenn du dich nur oft genug misst,
wirst du gesünder, effizienter, richtiger.
Doch die Zahl ist kein Urteil.
Abweichung ist kein Fehler.
Technik erzeugt Kontrolle – nicht Verbindung.
Die Fitness-App hat die Idealgewichtstabelle abgelöst.
Aber die Sprache ist dieselbe geblieben:
Zielgewicht, Sollwert, Fortschritt.
Selbstoptimierung ist die neue Moral.
Schlussgedanke
Wenn du dich heute wiegst,
begegnest du auch diesem alten Denken.
Dem Versuch, Ordnung zu schaffen,
wo eigentlich Lebendigkeit ist.
Die Waage ist kein neutrales Werkzeug.
Sie trägt Geschichte – und sie erinnert dich daran,
dass du mehr bist als ein Messwert.
In der nächsten Folge geht es darum,
wie du mit der Zahl auf der Waage anders umgehen kannst:
wie du sie einordnest, ohne dass sie dich steuert,
und wie du lernst, dich zu beobachten, statt dich zu beurteilen.
Quellen und weiterführende Literatur –
1. Bivins, R. (2016) – “Should be in every home”: Selling health through the bathroom scale.
Social History of Medicine, 29 (4), 757–780. Oxford University Press.
https://academic.oup.com/shm/article/29/4/757/2660184
2. Eknoyan, G. (2008) – Adolphe Quetelet (1796-1874) – the average man and indices of obesity.
Nephrology Dialysis Transplantation, 23 (1), 47–51.
https://academic.oup.com/ndt/article/23/1/47/1923176
3. Keys, A. et al. (1972) – Indices of relative weight and obesity.
Journal of Chronic Diseases, 25 (6–7), 329–343.
4. Lederer, S. E. (2012) – Measuring Up: The Public Weighing Machine and the Moral Economy of Health.
Journal of Social History, 45 (4), 1077–1102.
5. Science Museum London – Sammlung „Weighing and Measuring Instruments“.
Historische Münzwaagen und Haushaltsmodelle.
https://collection.sciencemuseumgroup.org.uk
6. Puhl, R. M. & Heuer, C. A. (2010) – Obesity Stigma: Important Considerations for Public Health.
American Journal of Public Health, 100 (6), 1019–1028.